... habe ich im Keller in einem Schrank eine ältere Pralinenschachtel.
Als ich sie öffnete, fiel es mir wieder ein, warum sie sich dort befand.
Sie stammt aus dem Nachlass einer Großtante meines Herrn. L..
Beim Ausräumen ihrer kleinen Wohnung vor fast 30 Jahren war mir die Schachtel in die Hände gefallen. Sie enthielt alte Fotos, ein paar alte Postkarten aus Tirol aus dem Jahr 1913 und Briefe. Die Briefe, stark vergilbtes Papier und doch noch in einem erstaunlich guten Zustand.
Ich nahm sie damals natürlich mit, weil ich auf dem ersten Brief eine erstaunliche Jahreszahl entdeckte. 1885. Alte Fotos kenne ich ja viele, sind doch in unserem Elternhaus noch einige von unseren Vorfahren aufbewahrt. Aber diese alten Briefe machten mich neugierig.
Solch alter Schriftverkehr ist sicherlich nicht mehr oft in Familien vorhanden und muss einfach genauer betrachtet werden. Ich glaube, den Datenschutz kann man nach so langer Zeit auch außer Betracht lassen, oder?
Entdeckt habe ich auch ein Zeugnis für einen (vermutlichen) Praktikanten aus dem Jahre 1877. Ich musste es zweimal lesen, denn der Rektor und Verfasser vom Zeugnis und der Beurteilte hatten nämlich beide den Namen Müller.
Erstaunlich, dass vom letzteren nicht wenigsten das Geburtsdatum bzw. eine Anschrift enthalten war. So etwas würde bei der heutigen Bürokratie niemals durchgehen.
In dem Zeugnis steht ua :
Herrn W. Müller, seit Ostern an hiesiger Stadtschule,
bescheinige ich auf sein Verlangen, das derselbe in der ihm übergebenen
gemischten Mittelklasse der II. Bürgerschule nicht nur mit Lust und Liebe,
sondern auch- trotz schwieriger Verhältnisse- mit Erfolg gearbeitet hat. Sein Umgang mit den
Kindern und seine Disziplin sind lobenswert.
Herr Müller erteilt außerdem noch Gesangsunterricht in der
Mädchenoberklasse der II. Lehrschule, Geographie in Klasse 3 der I. Lehrschule
und Religion und Gesang in Unterklasse B der II. Lehrschule.
Da es ihm nicht an Lehrgeschicklichkeit
fehlt steht zu erwarten, daß er bei
regem Eifer für seine Weiterbildung, stets zur Zufriedenheit der Schulgemeinde
und seinen Herrn Vorgesetzten tätig sein wird...
Daraus schlussfolgere ich, dass er später ein lehrerstudium begonnen hat und im Jahr 1887 dann in folgendem Brief über seine Prüfungen und die Ergebnisse berichtete.
Hier ein paar Auszüge:
Löbau, den 26.ten März 1887
Mein liebes, süßes Herzenstrutchen!
Endlich ist, Gott sei gedankt, die schriftliche Prüfung zu
Ende. Wir haben geschrieben über folgende Themen:
Aufsatz - 4 Stunden - „Die Glocke in der Poesie“
Naturkunde- 2 Stunden - „Die Haut des menschlichen Körpers, ihre Tätigkeit
und Pflege.“
Geschichte - 2 Sunden- „Warum wird Friedrich Wilhelm der
Große Kürfürst genannt?“
Religion - 2 Stunden - „Das fünfte Hauptstück, wer empfängt
solch Sakrament würdiglich?“ (Lied: Schmücke dich, o liebe Seele.)“
Geographie- 2 Stunden- „Das Deutsche Reich – das Herz
Europas.“
Rechnen - 2 Stunden - 3 Aufgaben, davon 2 Rechnen und 1 Geometrie
; hier ging es uns allen sehr schlecht, denn von den 7 Lehrern, die wir hier
sind, hatte ich allein 1 Aufgabe gelöst und, wie sich nachher herausstellte
noch falsch. Gestern Nachmittag war Konferenz und der Direktor und der Rechenlehrer
– Oberlehrer Witt, sind dabei hart aneinander geraten, weil letzterer die
Aufgaben zu schwer gestellt hat. Heute haben wir nun noch einmal gerechnet und
zwar leichtere Aufgaben, welche ich alle 4 richtig gelöst habe; mit mir noch
andere.
Gestern nachmittags lies der Direktor alle zusammenkommen
und erzählte unter besonderer Betonung, daß mein Aufsatz einer der besten sein
soll und auf den Aufsatz kommt das meiste an. In der Religion habe ich
ebenfalls im schriftlichen das Prädikat „genügend“. Die übrigen Fächer weiß ich nicht.
Heute . . . zogen wir Lehrproben, welche am Dienstag gehalten
werden. Die meine heißt: „Das Verbot des V. Gebotes.“ - “Daß wir unseren Nächsten
an seinem Leibe keinen Schaden noch Leid thun.“
Gott hat bis hier her geholfen, er wird auch weiter helfen!
. . .
Die Großtante meines Mannes ist das Mädchen auf dem linken Foto.
Der oben genannte Lehrer Wilhelm Müller war vermutlich ihr Großvater. Denn sie erzählte immer, dass sie aus einem strengen Lehrerhaus stammen würde.
Die alten Fotos sind auch sehr interessant. Was mir aufgefallen ist, alle fotografierten Personen schauen ernst, sehr ernst. Niemand lächelt.
In der Schachtel waren noch ein Führerschein aus dem Jahr 1914 und Fahrzeugpapiere von 1937, Einkaufsausweise aus dem 2. Weltkrieg und andere persönlichen Papiere.
Und noch mehr Briefe, deren Schrift sehr klein ist und manchmal fast unlesbar. Es gibt welche, die sind bis auf die letzte Stelle des Blattes beschrieben und manche sind durch Feuchtigkeit etwas fleckig. Aber alle sind mit Tinte geschrieben.
Mich faszinieren solch alte Briefe sehr, weil sie in der heutigen Zeit etwas besonderes sind. Nur noch wenige Menschen schreiben persönliche Briefe. Das Telefon, die E- Mail und WhatsApp haben solche Briefe ganz weit in das Abseits gerückt. Sehr schade, finde ich.
Wann habt ihr das letzte Mal einen Brief geschrieben, einen ganz persönlichen, mit viel Zeit, einem Füller und mit Tinte?